Im Jahr 2002 hatten es Kunstinteressierte in München vergleichsweise schwer die Kunstszene der Münchner Viertel kennen zu lernen: Es gab wenige bis keine Ausstellungen jenseits der Galerien. Ganz im Gegensatz zu London North, wo Ulrike Schüler, Sendlinger Künstlerin, während eines zweijährigen Aufenthalts erlebte, wie KünstlerInnen ihre Ateliers gemeinsam für das Publikum öffneten…
STREITBARE KUNST
Zurück in München fand Ulrike: „Es muss was passieren!“ Inspiriert und mit frischem Blick auf ihr Viertel Sendling machte sie zusammen mit Malerin Anna Kiiskinen – ihrer damaligen Atelierkollegin – Sendlinger KünstlerInnen aus- findig: Erst kennenlernen, dann zusammenbringen – und zwar möglichst regelmäßig, so die Idee. Wir haben in den Hinterhöfen nach KünstlerInnen gesucht und erstaunlich viele gefunden!“ – erinnert sich Ulrike – „Schließlich sollte ein Künstlerstammtisch entstehen!“ Marion Kropp, Malerin in der Kidlerstraße, kam 2005 dazu. „Ich habe meine Arbeit vorgestellt und dachte hoffentlich darf ich mitmachen!“. Sie durfte – und wurde Teil der „wilden Runde“, die sich einmal im Monat im Wirtshaus Pschorrkrug traf. Es war laut dort und es wurde geraucht was ging. Marion: „Zu wenig getrunken haben wir auch nicht!“ Es wurde heiß diskutiert und sogar gestritten – über alles, auch das Finanzielle. Transparenz war oberstes Gebot und für wichtige Anlässe wurden regelrechte Generalversammlungen abgehalten – fast alle kamen dann. Rund 40 Leute entschieden über Fragen wie „wofür geben wir das Geld aus“ oder „wie finanzieren wir das?“ Der offene Austausch ohne Hierarchie war Ulrike Schüler von Anfang an wichtig. Sie hatte zwar die Federführung, machte aber keine Vorgaben. Entscheidungen wurden mehrheitlich getroffen. So unterschiedlich die Meinungen auch waren: Der lose Künstlerzusammenschluss kam immer zu guten Lösungen.
HANDGEMACHT
Es wurde nicht nur geredet – jeder brachte auch ein was er/ sie konnte. Neben der Zeitung gab es viel zu tun: Sponso- ren aus dem Viertel finden, den Bezirksausschuss einbinden, Werbeplakate drucken – und überhaupt: Kunst in Sendling sollte ins Bewusstsein von Nachbarn und Geschäftsleuten in ganz München gerufen werden! Entsprechend breit waren die Werbemaßnahmen angelegt: Große Plakate für Litfaßsäulen über ganz München, kleine Plakate, Flyer und Pressemappen für Geschäfte, Flyer und Informationen für das Kulturreferat der Stadt München. Von Anfang an unterstützte der Bezirksausschuss Einzelprojekte finanziell.
Monika Vesely, Schmuckdesignerin in Schloss Blumenthal und Sendling, koordinierte vier Jahre lang die Öffentlich- keitsarbeit und Sponsoring für Kunst in Sendling. Dazu gehörte auch die Aufteilung der KünstlerInnen für die Ausle- gung der Flyer in den Stadtteilen, die Auswahl der Orte für die Plakathängung oder die Gestaltung der Pressemappe. Es wurden Arbeitsgruppen gebildet und Anmeldungen verarbeitet. Vieles lief per Hand und – heute unvorstellbar – völlig ohne Elektronik! Die Künstlerplakate wurden zum Bei- spiel per Siebdruck im Atelier von Marion Kropp gedruckt.
ATELIERGESCHICHTEN
Nach viel Vorbereitung und Arbeit kam an den KUNST-IN- SENDLING-Abenden die Belohnung: Selten ging es vor drei Uhr ins Bett. Kunst, Gespräche und Feiern gehörten zusammen. Das beweisen auch die zahlreichen Künstler-Feste übers Jahr. „Kreativ und wild“ war auch hier das Motto wie die Maskeraden von damals zeigen. Monika schwärmt ein wenig wehmütig: „Es war ein richtig guter Kontakt untereinander und sooo lebendig!“
nahmen Kunst-in-Sendling-KünstlerInnen gemeinsam an Projekten teil: Zum Beispiel dem Gemeinschaftsprojekt der Stadt München „Hommage an“, zu dem auch andere KünstlerInnen eingeladen wurden.
KUNST VERBINDET
Auf die Frage, was sie rückblickend am meisten freue antwortet Ulrike: „Dass KUNST IN SENDLING zu einer Einrichtung wurde.“ Als sie mal versehentlich nicht im Flyer aufgeführt war kamen die Leute trotzdem zu ihr. Das gilt bis heute: KUNST IN SENDLING hat die Nachbarschaft gestärkt und einen anderen Bezug zum Viertel ermöglicht. Man trifft sich auf der Straße, kennt und grüßt sich. Nachbarn kommen auf ein Glas Wein ins Atelier… Gelebte Kultur übers ganze Jahr – ausgelöst von eigentlich nur drei Tagen KUNST IN SENDLING.
KUNST IN SENDLING habe ihr eine andere Wahrnehmung des Viertels ermöglicht. Das SPD-Büro, das Alten- und Ser- vicezentrum oder zum Beispiel die Kulturschmiede wurden genauso „entdeckt“ wie Konzerte in der Kirche. Die Künstler wurden bekannter und ihr Zusammenhalt stärker. Vor Kunst in Sendling musste man sich fragen: „Welche Künstler sind überhaupt im Viertel?“ Auch Monika bestätigt das: „KUNST IN SENDLING hat mich mit anderen Künstlern und Gewerbe- treibenden im Stadtteil vernetzt. KUNST IN SENDLING stiftet Identifikation! ̋
ERFOLGE
Zu den Erfolgen von KUNST IN SENDLING zählen sowohl kleine als auch große Begebenheiten. Da wäre das Portrait „Der frische Duft nach Farbe“ in der Süddeutschen Zeitung im Jahr 2004, das zum Ansehen und zur Bekanntheit in der Öffentlichkeit wesentlich beitrug. An den offenen Ateliertagen suchten Galeristen neue Künstler und Werke – und fanden sie. Es gab Besucher, die unauffällig und leise herum- standen – um dann gleich drei Bilder im Großformat zu kaufen. Marion erinnert sich: „Einmal war es schweinekalt und eine ältere Frau musste wohl ein wenig bei mir verschnaufen. Sie setzte sich vor meinen kleinen Boller-Ofen im Atelier. Dabei schaute sie eine ganze Weile – unfreiwillig – auf ein eher düsteres Gemälde von mir. Irgendwann sagte sie: ‚Eigentlich hat es mir beim ersten Blick nicht gefallen – jetzt mag ich es!’ Dieser Moment war für mich als Künstlerin sehr wertvoll.“ Und natürlich gab es Nachbarn, die„ihre Künstler“ im Viertel entdeckten und sich Werke mit nach Hause nahmen.
Eine Anekdote die Monika anlässlich der offenen Ateliers von Kunst in Sendling in Erinnerung ist: In der Oberländer Straße hatte jemand ein Plakat rausgehängt: „Hier auch Kunst in Sendling!“ Ulrike ging hinein und stellte die Tritt- brettfahrerin zur Rede – die beiden einigten sich glücklicherweise… Über die Zeit entstanden schöne und inspirierende Beziehungen die bis heute Gültigkeit haben. Nach wie vor ist Monika einmal in der Woche in ihrem Atelier in Sendling. Auch an KUNST IN SENDLING nimmt sie teil – im Atelier von Ulrike. Das Schöne an den Besuchen im Atelier seien die persönlichen Gespräche und das feedback finden die beiden. Was wünschen sie sich für KUNST IN SENDLING? Frische! Der Fokus der teilnehmenden Künstler soll weiter- hin auf dem Kreativen & Künstlerischen liegen und Gertrud Fassnacht ihre Touren durch Sendling anbieten. Es sei wichtig, dass Besucher Einblick in Ateliers und das Tun der KünstlerInnen bekommen, Atmosphäre schnuppern dürfen.
Überblick 2004 bis 2016
2004 + 2005: 24 Ateliers/Stationen
2007: 38 Ateliers/Stationen
2009: 43 Ateliers/Stationen
2010: 48 Ateliers/Stationen
2011: 46 Ateliers/Stationen
2012: 38 Ateliers/Stationen
2013: 42 Ateliers/Stationen
2014: 54 Ateliers/Stationen
2015: 47 Ateliers/Stationen, 1. »Sendlinger Kunsthalle«
2016: 42 Ateliers/Stationen, 2. »Sendlinger Kunsthalle«
Damalige Prämisse für die Teilnahme bei KUNST IN SENDLING: Eigenes Atelier oder Raum in Sendling bei einem Mitgliedsbeitrag von 50 Euro. Für Künstler ohne Atelier wurden Räumlichkeiten angemietet – zum Beispiel der Keller des „Fruchthofs“ in der Gotzinger Straße.
CREDO DER ERSTEN STUNDE
„Wir wollen unabhängig sein! ULTRA-lebendig und demokratisch! Keine Auflagen durch Zuschüsse oder Sponsoring! Keine Rechtfertigungen!“
STETIG IST DER WANDEL
Offene Ateliertage sind heute nichts Besonderes mehr. Die Stadt boomt und mit ihr Kunstmessen, Kunstmärkte, offene Ateliers und offene Werkstätten in verschiedenen Vierteln. Kultur verdrängt Kultur – und das durchaus auch örtlich: Ausweichstandort für den Gasteig soll künftig das Areal gegenüber dem Sendlinger Heizkraftwerk in der Hans-Preißinger-Straße werden. Hier werden Ateliers zum Opfer fallen, die bei KUNST IN SENDLING ihre Türen öffneten. Die Stadt verändert sich, die Orte und das Publikum mit ihr. Die Bereitschaft – oder ist es die Fähigkeit? – sich auf Kunst und Künstler einzulassen ist geringer geworden, Kunst zu konsumieren dafür größer. Kunst selbst hat sich verändert: Klassische Genres wie Bildhauerei, Malerei und Zeichnung wurden um das Spektrum digitaler Kunst stark erweitert.
KUNST IN SENDLING HEUTE
Nach wie vor findet KUNST IN SENDLING an drei Tagen im Herbst statt, meistens im Oktober. Es gibt die Offenen Ate liertage. Und es gibt einen zusätzlichen außergewöhnlichen Ort für eine Gemeinschaftsausstellung und Künstler ohne eigenes Atelier: Die einst avantgardistische Idee von Ulrike, leer stehende Gewerbeflächen und Schaufenster mit Kunst zu bespielen ist rund 13 Jahre später Wirklichkeit. Nicht zuletzt mit Hilfe der „Kreativwirtschaft“ (Stadt München) sind Zwischennutzungen möglich geworden. So kam letztes und dieses Jahr das Kontorhaus auf dem alten Gelände der Großmarkthalle zum Einsatz. Aber auch ein altes Sendlinger Wahrzeichen wie der alte Bunker in der Gaißacherstraße und ebenso der ehemalige PENNY-Markt in der Oberländer-/ Ecke Danklstraße vor drei Jahren wurden vom Filmemacher und ehemaligen Vorstandsmitglied Reinhold Rühl für die Offenen Ateliertage entdeckt und bespielt.
Die Teilnahmebedingungen für KUNST IN SENDLING haben sich ein wenig verändert: Ein eigenes Atelier ist inzwischen Luxus – auch in Sendling. Nur wenige Künstler können von der Kunst leben – viele haben ein zweites Standbein und sind offiziell Grafiker, Lehrer, Architekten etc. Die Zahl der teilnehmenden akademischen als auch autodidaktischen Künstler ist auf ca. 90 angewachsen.
VON DER VEREINIGUNG ZUM VEREIN
Sieben Jahre leitete Ulrike KUNST IN SENDLING und hatte die Redaktion für die jährliche Zeitung anlässlich der Offenen Ateliertage – ein lange Zeit und ein irrer Aufwand für eine ehrenamtliche Arbeit. Danach übernahmen Christoph Schneider und Chris Plötze die Organisation für zwei Jahre und führten einen Katalog ein. 2011 folgten Karl Kempf (Entwicklung des heutigen Logos) und Robert Engler zusammen mit Fred Krueger (Grafik). Ab 2012 Berit Opelt, Reinhold Rühl und weiterhin Fred Krueger. Seit zwei Jahren ist Kunst in Sendling nicht mehr loser Zusammenschluss sondern ein- getragener Verein. Im Frühjahr 2017 wurde der Vorstand abermals neu gewählt: Fred Krueger (Maler), zuständig für Print-Medien, Berit Opelt (Malerin) zuständig für Projekte und Organisation und Matthias Grosholz als Webmaster. Auch sie arbeiten ehrenamtlich und stecken viel Zeit und Herzblut in Kunst in Sendling. Gilt für sie das ehemalige KUNST IN SENDLING-Credo noch? Wie führen sie den Verein? Wo sehen sie Kunst in Sendling und seine Künstler heute – in Zukunft?
DIE ZUKUNFT IST GELB AUF SCHWARZ
Fred: „KUNST IN SENDLING hat Guerilla-Qualität. Deshalb ist sie auch nicht kuratiert wie teilweise in anderen Stadtteilen. KUNST IN SENDLING geht nicht konform mit irgendwelchen Strömungen – sie muss nichts. In erster Linie geht es um eines: Dass Künstler IHRE Kunst machen. Als Verein bieten wir ihnen verschiedene Plattformen und sind aufgeschlossen für Möglichkeiten und Projekte. Allerdings möchten wir weder ins Kunsthandwerkliche abdriften noch mit »Türsteher-Prinzipien« agieren. Die Sendlinger Kunst ist vielfältig und extravagant genug! Wir wünschen uns daher ein mündiges Publikum, ohne wie Museen oder Kunstmessen Zuschauerzahlen generieren zu müssen. Kuratoren treffen dort meist eine Vorauswahl, Ein- und Zuordnung finden statt – der Besucher findet sozusagen »geflterte Kunst« vor.
Als gebürtiger Sendlinger habe ich den Wandel der Stadt intensiv miterlebt und mir ist nicht daran gelegen, mit einem weiteren Event-Baustein zur Kommerzialisierung Münchens beizutragen oder gar eine Party-Gesellschaft zu bespassen. Unser Engagement bedeutet daher auch eine Gratwanderung. Wenn ich heute durchs Viertel gehe, sehe ich in ehemaligen Metzgereien und kleinen Läden nur noch große Apple-Monitore der Architekten, Designer und sonstigen »Schausteller«. Früher hat man seine Arbeit in schnöden Bürogebäuden verrichtet, heute ist es schick, sich »im Kiez« zu präsentieren – während der gleiche immer mehr verloren geht! Im Viertel hängen Zettel, die für die Vermittlung eines Wohnungskaufs 5.000 € versprechen – weil man das Viertel so liebt. Ja, auch das hat mit schwindender Kunst(-Betrachtung) zu tun. Der Humus, auf dem sich Kreativität entfalten kann wird nicht unbedingt durch clevere Geldanlagen bereitet. Erschwingliche Ateliermieten wird man eher in der ein oder anderen »oberperlten« Ecke finden. Obwohl sich der Künstler, nicht zuletzt aus existenziellen Gründen eine finanzielle Würdigung seiner Arbeit wünscht, sosehr kann Kommerz und Kapital auch ein Sargnagel für Kunstraum bedeuten.“
Berit: „Mir ist es wichtig, dass sich KünstlerInnen kennen- lernen, austauschen, vernetzen, Synergien nutzen, dass wir gemeinsame Projekte realisieren, die uns auch über die Grenzen von Sendling und München hinaus bekannt machen. Es freut mich sehr, dass wir zunehmend von ‚außen’ zur Teilnahme an Projekten eingeladen werden. Seit 2015 haben KiSler an der Stadtteilwoche gemeinsam mit den Munich Artists eine Ausstellung im Galerie- wagen der LHM und Workshops im Kunstzelt veranstaltet, 6 Wochen ihre Werke in einem Schaufenster in der Donislpassage in der Innenstadt ausgestellt und an der SüdpArt teilgenommen. Vor einigen Monaten fragte Frau Lutz vom Kultur- management des Erzbischöflichen Ordinariats an, ob wir nicht gemeinsam mit der katholischen Kirche Projekte in der Pfarrei St. Margaret verwirklichen möchten. Es bildete sich eine 12er Gruppe und im Oktober beginnt die Reihe mit einem ‚MOOB’ von Mone Kante, gefolgt von Werken von Andrea Unterstrasser im November und Eva Raiser-Johanson im Dezember. Von Februar bis Juli 2018 wird in der großen Pfarrkirche das Projekt ‚FAUST’ stattfinden (s. S. 43) und ab September wird die die Reihe der Zusammenarbeit Kirche-Kunst fortgesetzt. Es verspricht, sehr spannend zu werden!“
Matthias: „KUNST IN SENDLING hat einen breiten demokratischen Ansatz: Jeder kann Kunst! Kunst findet nicht in den Elfenbeintürmen der Akademie statt sondern in den Hinterhöfen der Arbeiterviertel! Mit dem Schritt zum Verein wird KUNST IN SENDLING inzwischen als ansprechbare Institution wahrgenommen – als Vertretung der Künstler in Sendling. Sowohl Künstler als auch die Kirche oder die Stadt München wenden sich an den Verein für Projekte. Wir können jetzt an Ausschreibungen teilnehmen, Fördergelder generieren oder Versicherungen abschließen.“
WÜNSCHE…
Und die KünstlerInnen? Sie wünschen sich Austausch und spannende Projekte. Aber vor allem kunstinteressierte Nachbarn und Münchner, die auf Entdeckung gehen und den Dialog suchen. Und ihre Wertschätzung für„Kunst aus dem Kiez“ auch durch deren Erwerb ausdrücken – und so zu einer lebendigen Kultur im eigenen Viertel und der eigenen Stadt beitragen. Galeristen jenseits des Mainstreams sind ebenfalls sehr willkommen! KUNST IN SENDLING ist eine Entdeckung wert – immer wieder.
– Auszug aus dem Magazin „Kunst in Sendling 2017 –